Hermann Knoflacher: „Grundlagen der Verkehrs- und Siedlungsplanung“

Böhlau Verlag, Wien 2007

Wie erlebt der Fußgeher die von Planern und Politikern gestaltete Struktur?

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Betritt er den Gehsteig, dann wird ihm zwar erzählt, der Gehsteig wäre zu seinem Schutz gebaut worden, in Wirklichkeit spürt er aber, dass er seinen Bewegungsraum einengt, ihm zu Umwegen zwingt, also eine Art Maßregelung darstellt. Nehmen wir eine Frau mit Kindern oder eine Person mit Gepäch, dann kann man ermessen, welches Ausmaß negativer Empfindungen und Erfahrungen für diese Art der Verkehrsteilnehmer schon in diesem Teil des Verkehrssystems vorbereitet wurde.

Der Anblick parkender Autos erzeugt im besten Fall Frustrationen uoder Hilflosigkeit. Auf jeden Fall sind sie eine Einschränkung des Sichtfeldes, eine Störung des optischen Empfindens und erwecken den Eindruck, dass der Lebensraum von diesen Fahrzeugen besetzt ist. Wenn man sich ein Kind vorstellt, das hier gerne spielen würde, dann weiß dieses, dass es sich in einem Raum voller Verbote bewegt.
Die Fahrbahn ist für ihn eine potentielle Todeszone, die Abgase, die er einatmet, sind eine Belastung, der Lärm ein Kennzeichen der Gefahr.

Er bewegt sich in einem von der Planung erzeugten Raum des Unbehagens und der Gefahren. Zuwendung erfolg von keiner Seite, sondern im Gegenteil, eher Missachtung. Er ist der Witterung ausgeliefert zum Unterschied vom Autofahrer, der sich wohlig in seiner klimatisierten Kabine bewegt. Er wird respektlos behandelt und, falls er den nötigen Respekt nicht aufbringt, von der Horde der Autofahrer unter Androhung von Tod und Verletzung aus „ihrem Lebensraum“ vertrieben, wenn er es etwa wagt, außerhalb der für ihn vorgesehenen Korridore über die Fahrbahn zu gehen.

Die Bebauung und die gesamte Infrastruktur erzeugen für ihn den Eindruck von Gefahr, Abschreckung, Abstoßung, Bedrohung, Einschränkung, Verbot auch des normalen Verhaltens. Der heute gestaltete Raum bietet für den Fußgeher überwiegend negative Erfahrungen.

Wie erlebt der Autofahrer diese Struktur?

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Er betritt den Gehsteig, und erlebt diesen – als Autofahrer – bereits als Maßregelung gegen den Fußgeher, im Sinne seines weiteren ungestörten Bewegungsablaufes, also eine positive Rückkopplung. Der Gehsteig sorgt dafür, dass er sich später überlegen, ungehindert und frei im öffentlichen Raum bewegen kann, wozu ihn auch das Recht mit entsprechenden Befugnissen ausgestattet hat. Nimmt er sein Auto wahr, assoziiert er damit bereits Kraft und Überlegenheit und viele andere Attribute, die ihm vielelicht als normalen Menschen abgehen oder Probleme bereiten.

Bereits die Möglichkeit des Parkens auf der Straße wird im Unterbewusstsein verrechnet, da ihm die Bodenpreise der Umgebung bekannt sind und er auf diese Art und Weise 20 m² Boden von der Öffentlichkeit kostenlos oder um einen geringen Betrag zur Verfügung gestellt bekommen hat. Allein das Bewusstsein öffentliches Gut besetzen zu dürfen, ist eine starke positive Rückkopplung. Der Geldwert eines Parkplatzes im städtischen Raum liegt bei 500 bis 800 Euro im Monat, wenn dieser Platz in der normalen Marktwirtschaft gehandelt wird. Der Autofahrer erhält diesen Platz umsonst oder um eine lächerliche Abgabe und gegen jede Erhöhung ziehen seine Interessenvertreter [z.B. das Darmstädter Echo] für ihn bereits in den Kampf. Das heißt, er ist in eine Vielfalt positiver Rückkopplungen eingebettet.

Die überdimensionierten Fahrbahnen, die ihm heute angeboten werden, vermitteln ein zusätzliches Gefühl der Überlegenheit und Macht und vor allem Freiheit. Schaltet er sein Radio ein, dann wird ihm einhe Zuwendung von den Medien gewährt, wie sie erwachsenen Menschen sonst nirgends im Leben widerfährt. [..] Er erhält auch die Informationen über die Leiden seiner Artgenossen, wenn eine andere Gruppe seiner Spezies irgendwo den Fuß vom Gaspedal nehmen musste, oder wenn gar einer von seiner Art irgendwo längere Zeit im gut klimatisierten Auto sitzt und nicht sofort ungehindert weiterrasen kann.

Das Auto vermittelt ihm, schon durch die Ausstattung, durch den unglaublichen Energieaufwand für Heizung und Bewegung, idealen Komfort und wird heute noch massiv durch sogenannte „intelligente Informationsmedien“ unterstützt. Das heißt, sein Hirn kann auf die elementaren Funktionen zurückschalten und kommt durch Verminderung geistiger Anstrengung damit zu einem zusätzlichen Genuss. [..] Er bewegt sich in einem von den Artgenossen geschützten Rechtsystem, das auch zunehmend von den höchsten Gerichten gegen fundamentale Menschenrechte, wie dem Recht auf reine Luft, auf Nachtruhe und auf sichere Lebensbereiche, verteidigt wird. Besonders dann, wenn er dem Club dieser Artgenossen in Form der verschiedenen Autofahrervereine beigetreten ist, wird er in dieser Rechtsauffassung öffentlich unterstützt.
[..]

Durch die jahrzehntelange Dressur der gesamten Gesellschaft ist jedem Autofahrer großer Respekt gewiss. Diesen Respekt kann er noch durch entsprechende Automarken, Embleme, Zubehör und dergleichen deutlich erhöhen. Das Einzige, was ihm manchmal Sorgen bereitet, ist, ob er am Zielort auch genau den Parkplatz bekommt, den er haben will. Wehe der Verwaltung, die diese Wünsche nicht sofort und auf Dauer erfüllt. Die Medien werden dazu angehalten, diese Verwaltung so lange zu maßregeln, bis dem Autofahrer alle Parkplatzwünsche in jeder Form in idealer Art und Weise erfüllt werden. An dieser Kampagne beteiligen sich aber auch viele Medienvertreter selbst engagiert.

Sein Anspruchsniveau steigt damit ins Uferlose, der Realitätsverlust ist zwangsläufig gegeben. Den Autofahrern ist in dieser Art des Systems, wie es von den Planern und der Verkehrspolitik bisher organisiert wurde, überhaupt kein Vorwurf zu machen. [..] Das von den Planern und von den Verkehrspolitikern errichtete und betriebene [..] System, bestehend nicht nur aus Fahrbahnen, Kreuzungen, [..] sondern auch aus dem Informations-, Rechts- und Finanzsystem, erzeugt dieses Verhalten. Auch ein Autofahrer, der sein Fahrzeug nicht im Straßenraum stehen hat, sondern in der Hausgarage, hat ähnliche Erlebnisse, die sich von Ersterem noch dadurch unterscheiden, dass sein geliebtes Kind, das Auto, in einer warmen Stube, geschützt vor anderen Autos und vor allem auch geschützt vor Menschen, die ihm etwas Böses tun könnten, untergebracht ist. Das einzige Hindernis bei der Ausfahrt, der Gehsteig, ist schnell überwunden, und macht im Wesentlichen keine Probleme, denn im Zweifelsfall ist der Autofahrer gegenüber dem Fußgeher immer noch besser geschützt und kann durch leichte Gewaltanwendung gegenüber dem Fußgeher seinen Willen immer durchsetzen.

Grundlegende Zusammenhänge

Seite 275

Voraussetzung [für Lebensfähigkeit] ist eine Trennung aller Aktivitäten der Menschen von den Parkplätzen des motorisierten Individualverkehrs.

Die Entfernung zu den abgestellten Fahrzeugen muss so groß sein, dass in den Zellen genügend Mobilitätszeit gebunden wird, um selbstständige Strukturen entstehen zu lassen. Entfernungen von über 300 m sind dazu in jedem Fall notwendig. [..] Die Entfernung zu den geparkten Fahrzeugen sollte zumindest so groß oder größer sein wie die Entfernung zur Haltestelle des öffentlichen Verkehrs.

Verkehrswende für Darmstadt