Am 3. November 2014 wurde ein Offener Brief zum Gehwegparken an die Mitglieder des Verkehrs- und des Nachhaltigkeitsausschusses der Stadt Darmstadt versendet.
Die Unterzeichner des Briefes sind:
- Martin Huth für die Themengruppe Klimaschutz der Lokalen Agenda 21 Darmstadt
- Andreas Bathe für die Themengruppe Mobilität & Verkehr der Lokalen Agenda 21 Darmstadt
- Tim Steinhaus für den AStA der TU Darmstadt
- Clara Keller, Stadtschulsprecherin, für den Stadtschülerrat Darmstadt
- Sylke Petry für den Fuss e.V.
- Sarah Seykra für die BUND-Jugend Darmstadt
- nachträglich: Renate Storm für die Themengruppe Lebensstil der Lokalen Agenda 21 Darmstadt
Hier der Text des Briefes:
Sehr geehrteR …,
wir schreiben Ihnen in Ihrer Funktion als Mitglied des [Verkehrs-|Nachhaltigkeits-]ausschusses.
Sie bekommen in der nächsten Ausschussitzung eine Vorlage aus dem Bürgerhaushalt zur Kenntnisnahme vorgelegt.
Es handelt sich um Vorlage Nr. 2014/0271, und es geht um Vorschlag Nr. 458:
„Gratis breitere Gehwege durch Beendigung des illegalen Gehwegparkens“.
Das Thema hat aus gutem Grund eine der höchsten Zustimmungsraten beim Bürgerhaushalt bekommen, denn die Tolerierung von illegalem Gehwegparken ist eine gezielte Benachteiligung der zu Fuß gehenden Verkehrsteilnehmer: u.a. Kinder, Alte, Eltern mit Kinderwagen, Menschen mit Gehbehinderungen.
Bereits 2013 wurde das Thema im Bürgerhaushalt in die Top 3 gewählt.
Wir möchten Ihnen anbei einige Informationen zur Situation in Darmstadt vermitteln.
Inhalt
Worum geht es?
Die nutzbare Breite des Gehwegs wird durch parkende Autos vermindert. Es geht hier nicht um einzelne „Rowdyparker“, sondern um die breite Masse, welche mit zwei Rädern auf den Gehweg hochfährt. Dieses illegale Gehwegparken wird durch die Stadt Darmstadt toleriert. Und sie möchte an dieser Praxis festhalten, obwohl sich die Bürger im Bürgerhaushalt dagegen aussprechen.
Warum habe ich diesen Brief bekommen? Was kann ich ändern?
Sie können den Magistrat fragen:
- Wollen Sie attraktive Straßen mit einer hohen Aufenthaltsqualität?
- Was ist Ihnen wichtiger: der Schutz der Fußgänger oder viel Platz für geparktes Blech?
- Wollen Sie auch in Stadtteilen ohne hohen Parkdruck und in der Nähe von Spielplätzen die Gehwege für geparkte Autos reservieren?
- Wollen Sie den Modal Split ändern, so dass weniger Menschen mit dem Auto fahren und mehr Menschen zu Fuß gehen?
- Wollen Sie weiterhin auf Einnahmen durch illegal parkende Fahrzeuge verzichten?
- An die Vertreter der Grünen: Wie steht es um Ihr Wahlversprechen, „Bürgersteige, die heute eher Parkplätze unter Duldung des Fußverkehrs sind, ihrer ursprünglichen Begriffsbedeutung zurückzugeben“? (Wahlprogramm 2011, S. 52)
- Wie sollen Kinder mit dem Rad auf dem Gehweg fahren, wenn dort kein Platz ist?
(sie müssen es bis zum Alter von 8 Jahren) - Finden Sie nicht auch, dass es jetzt an der Zeit ist, eine Verkehrswende einzuleiten?
Mit freundlichen Grüßen
Themengruppe „Klimaschutz“ der Lokalen Agenda 21 Darmstadt
Themengruppe „Mobilität und Verkehr“ der Lokalen Agenda 21 Darmstadt
AStA der TUD
Stadtschülerrat Darmstadt
Fuss e.V.
BUND-Jugend Darmstadt
Aktionsbündnis Verkehrswende Darmstadt
Anhang
Wie hoch ist der Anteil der Fußgänger am Gesamtverkehr?
Mehr als jeder vierte Weg (27% aller Wege) wird in Darmstadt zu Fuß zurückgelegt.
(Quelle: Studie „Mobilität in Darmstadt“, 2011)
Was wird im Bürgerhaushalts-Vorschlag gefordert?
Zitat:
Die Tolerierung soll entfallen, wenn
-
kein hoher Parkdruck besteht oder
-
viele Fußgänger den Gehweg nutzen (z.B. innerhalb des Cityrings / Bahnhofsnähe) oder
-
ein Parkhaus in der Nähe ist (Abstand 2 Blöcke) (-> ausreichend Parkplätze vorhanden) oder
-
der Gehweg mit historischem Pflaster belegt ist (-> Beschädigung durch Fahrzeugreifen, Vorbild Mathildenhöhe) oder
-
eine Schule oder eine Kita in der Nähe ist (Abstand 2 Blöcke).
Es wird also keineswegs gefordert, die Tolerierung pauschal entfallen zu lassen, und der Vorschlag ist somit auch nicht mit dem Vorschlag von 2013 vergleichbar.
Wenn die Tolerierung entfällt, dann ist „der Bordstein die Grenze“.
Wie viele Orte in Darmstadt sind maximal 300 Meter (= ca. 2 Blöcke) von einem Spielplatz / Kita / Schule / Parkhaus entfernt?
Wie auf den Landkarten zu erkennen ist, gibt es fast keinen Ort in Darmstadt, der weiter als 300 m von einem Spielplatz / Kita / Schule / Parkhaus entfernt ist. Somit sollte das Gehwegparken fast nirgendwo mehr toleriert werden, denn jeder Spielplatz wird von Kindern im Umkreis von mindestens 300 m besucht, und diese Kinder nutzen natürlich den Gehweg.
Bereiche in 300 m Entfernung von Spielplätzen, Kindertagesstätten, Schulen und Parkhäusern.
Was spricht gegen das Gehwegparken?
Es gibt viele Gründe, die gegen das Gehwegparken sprechen:
- Fußgänger, also auch Kinder, Alte, Eltern mit Kinderwagen und gehbehinderte Personen, sollen einen attraktiven und sicheren Gehweg benutzen können.
- Es soll möglich sein, nebeneinander zu gehen und sich zu begegnen, ohne sich an der Hauswand oder dem Auto entlang zu schieben.
- Durch den attraktiveren Gehweg gewinnt die Straße an Lebens- und Aufenthaltsqualität.
- Durch die Attraktivitätssteigerung wird potenziell mehr zu Fuß gegangen. Dadurch verringert sich der Kfz-Verkehr. Dies nutzt dem Klima, da weniger CO2 ausgestoßen wird.
- Das Ziel des offiziellen Klimaschutzkonzeptes der Stadt Darmstadt ist die Verringerung des CO2-Ausstoßes. Es gibt sogar eine separate Maßnahme für das Gehwegparken: „Gehwege frei“ (Maßnahme Nr. 60).
- Viele Darmstädter Gehwege sind schon ohne Gehwegparken zu schmal. Die Regelbreite beträgt 2,50 m gemäß der „Empfehlungen für Fußgängerverkehrsanlagen“ (EFA) (Mindestbreite 2,20 m), an Straßen mit gemischter Wohn- und Geschäftsnutzung mind. 3,30 m. (Quelle: www.geh-recht.info)
- Es gibt generell kein Anrecht auf einen Parkstand im öffentlichen Raum. Gemäß Stellplatzsatzung sind für jede Wohnung 1,2 – 1,4 Stellplätze im privaten Raum vorhanden.
- Gehwegparken ist illegal. In der StVO ist eindeutig definiert, dass Fahrzeuge zum Parken an den Fahrbahnrand heranzufahren haben. (§ 12 Absatz 4)
Warum wird Gehwegparken toleriert, wenn es doch illegal ist?
Es handelt sich hierbei um das sogenannte Opportunitätsprinzip. Das Ordnungsamt hat Entscheidungsfreiheit, ob es einer Ordnungswidrigkeit nachgeht oder nicht.
Der Ordnungsdezernent der Stadt Darmstadt, Herr Reißer, hat entschieden, dass die Mitarbeiter des Ordnungsamtes das Gehwegparken nur ahnden sollen, wenn eine Rest-Gehwegbreite von ca. 1,20 m unterschritten wird.
Wie begründet der Magistrat, dass Gehwegparken weiter toleriert werden soll?
Zitat aus der Magistratsvorlage:
Die aktuelle Parkraumsituation [lässt] in Gebieten mit einem hohen Parkdruck in Bezirken mit einem hohen Anteil an Wohnraum und Geschäften (z. B. Bessungen, Johannesviertel, Martinsviertel) eine sofortige und umfassende Ahndung des Gehwegparkens nicht zu. [..]
In vielen Bereichen im Stadtgebiet wird teilweise seit Jahren mit zwei Rädern, in wenigen Fällen auch mit dem ganzen Fahrzeug, auf dem Gehweg geparkt, ohne dass eine Behinderung des Fußgängerverkehrs vorliegt. In diesem Fällen hat es sich bewährt, das Gehwegparken zu tolerieren, da der hohe Parkdruck vielerorts keine Alternative zulässt bzw. das Parken am Fahrbahnrand sogar zur Behinderung führen würde. An dieser Praxis sollte festgehalten werden.
Ist in ganz Darmstadt hoher Parkdruck?
Nein, nur in den Innenstadtbereichen herrscht hoher Parkdruck.
Im übrigen Stadtgebiet kann also eine „sofortige und umfassende Ahndung des Gehwegparkens“ stattfinden.
Wie viel Platz haben die Fußgänger momentan?
Wenn auf dem Gehweg geparkt wird, beträgt die Restbreite oft zwischen 1,20 m und 1,80 m.
An manchen Stellen zwischen 90 cm und 1,20 m,
manchmal sogar unter 90 cm.
Wir haben für einige Darmstädter Stadtteile Landkarten erstellt.
Kümmert sich nicht der Parkbeirat ums Gehwegparken?
Der Parkbeirat wird voraussichtlich ein Parkraumbewirtschaftungskonzept (z.B. Anwohnerparken) erstellen, welches für die Flächen mit hohem Parkdruck gültig ist. Die Flächen ohne hohen Parkdruck werden davon nicht erfasst.
Was ist die Position der Verfasser?
Unsere Position ist: eine Tolerierung des Gehwegparkens ist nur in Gebieten mit hohem Parkdruck zulässig.
Wir fordern als Kompromiss:
- In Gebieten ohne hohen Parkdruck ist der Bordstein die Grenze.
- In Gebieten mit hohem Parkdruck ist die minimale Rest-Gehwegbreite 1,80 m.
Hierzu empfehlen wir die Lektüre des Textes „Der Fußgänger: für die Fachwelt ein Wesen ohne nennenswerten Platzbedarf“ von Heiner Monheim.
Zitat aus der Magistratsvorlage:
> In vielen Bereichen im Stadtgebiet wird teilweise seit
> Jahren mit zwei Rädern, in wenigen Fällen auch mit
> dem ganzen Fahrzeug, auf dem Gehweg geparkt, ohne
> dass eine Behinderung des Fußgängerverkehrs vorliegt.
> In diesem Fällen hat es sich bewährt, das Gehwegparken zu
> tolerieren, da der hohe Parkdruck vielerorts keine
> Alternative zulässt bzw. das Parken am Fahrbahnrand
> sogar zur Behinderung führen würde.
Die Begründung aus der Magistratsvorlage finde ich haarsträubend!
Das Tolerieren des Gehwegparkens durch das Ordnungsamt wird mit dem Opportunitätsprinzip nach § 47 Absatz 1 OwiG begründet. Die Stadtverwaltung kann sich mit diesem Argument allerdings nicht aus der Verantwortung stehlen.
Die Straßenverkehrsbehörde sind nach § 44 StVO für die Ausführung dieser Verordnung zuständig. Vgl. BHHJJ/Heß StVO § 45 Rn. 11-13:
> Die Verkehrssicherungspflicht umfasst auch die Verkehrs-
> regelungspflicht, das heißt die Amtspflicht, den Verkehr
> durch Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen
> möglichst gefahrlos zu leiten (BGH NJW 04, 356;
> VersR 90, 739; OLG Düsseldorf NJW-RR 94, 1443;
> OLG Hamm NZV 95, 275).
In Verwaltungsvorschrift zu § 44 StVO wird auf eine notwendige Zusammenarbeit der Behörden hingewiesen:
> Zur Bekämpfung der Verkehrsunfälle haben Straßen-
> verkehrsbehörde, Straßenbaubehörde und Polizei eng
> zusammenzuarbeiten, um zu ermitteln, wo sich die
> Unfälle häufen, worauf diese zurückzuführen sind, und
> welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, um
> unfallbegünstigende Besonderheiten zu beseitigen.
Die Straßenverkehrsbehörde muss die Verwaltungsvorschrift zu den §§ 39 bis 43 StVO beachten. Darin ist u.a. geregelt:
> Die Flüssigkeit des Verkehrs ist mit den zur Verfügung
> stehenden Mitteln zu erhalten. Dabei geht die
> Verkehrssicherheit aller Verkehrsteilnehmer der
> Flüssigkeit des Verkehrs vor.
Fußgänger sind nach § 25 StVO verpflichtet, die Gehwege zu benutzen. Gehwege sind Sonderwege und dienen dem Schutz der Fußgänger. § 25 StVO schützt aber auch den Fahrverkehr (OLG Köln VRS 72, 34; vgl. BHHJJ/Heß StVO § 25 Rn. 1).
Sofern die Benutzung des Gehwegs (wegen Hindernissen durch geparkte Fahrzeuge) Fußgängern nicht zuzumuten ist, dürfen Fußgänger auf die Fahrbahn ausweichen. Straßenverkehrsbehörde trägt hier die Verantwortung, geeignete Maßnahmen zum Schutz der Fußgänger einzuleiten (Durchsetzung der StVO, Anordnung von Zeichen 133, Zeichen 274).
Die Duldung des Falschparkens birgt noch eine weitere Gefahr: Wenn jeder Kfz-Fahrer meint selbst einzuschätzen zu können, inwieweit ein Parkverstoß (oder auch eine andere Ordnungswidrigkeit) noch hinnehmbar ist, verliert die Straßenverkehrsordnung ihre Aufgabe, den Verkehr zu ordnen und insbesondere die schwächeren Verkehrsteilnehmer zu schützen. Eine umfassende Überwachung des Verkehrs ist ohnehin nicht möglich. Sobald die Überwachungsorgane über offensichtliche Ordnungswidrigkeiten systematisch hinweg sehen, stellt dies die Autorität des Rechtsstaates in Frage.
Zitat aus der Magistratsvorlage:
> In vielen Bereichen im Stadtgebiet wird teilweise seit
> Jahren mit zwei Rädern, in wenigen Fällen auch mit
> dem ganzen Fahrzeug, auf dem Gehweg geparkt, ohne
> dass eine Behinderung des Fußgängerverkehrs vorliegt.
Ich möchte betonen, dass Fußgänger nicht erst dann durch auf dem Gehweg abgestellte Fahrzeuge behindert werden, wenn der Durchgang nicht mehr möglich ist, sondern schon dann, wenn Fußgänger – dazu gehören Fahrrad fahrende Kinder, Rollstuhlfahrer, Menschen mit Kinderwagen, eine Kita-Gruppe oder allgemein eine Gruppe von Fußgängern, Rollerfahrer oder Personen, die ein Fahrrad/Handwagen mitführen – auf ein Hindernis auf dem Gehweg reagieren müssen (z.B. ausweichen oder warten müssen). Wenn der Magistrat das anders sieht, dann sollte er in Darmstadt konsequenterweise auch für das Nebeneinanderfahren von Fahrrädern nach § 2 Abs. 4 StVO (in Straßen mit zwei oder mehr Fahrstreifen) werben.
Im Straßenverkehr verunglücken leider auch viele Kinder. Eine der Hauptunfallursachen ist dabei das plötzliche Hervortreten hinter Sicherhindernissen. Vgl. Sebastian Poschadel: Prototypische Kinderunfälle im innerstädtischen Straßenverkehr, Ruhr-Universität Bochum 2006:
> Sichthindernisse (in den meisten Fällen geparkte Autos)
> stellen für sie selbst und die Autofahrer gleichermaßen
> unüberwindbare Sichtbarrieren dar.
Aus meiner Sicht kann man den Kindern schwer vermitteln, größzügig Abstand zu Kfz zu halten und nicht direkt hinter Autos auf die Straßen zu treten, wenn diese sich immer wieder im Umkreis von auf Gehwegen (die im Grunde den Fußgänger vorbehalten sind) und im Kreuzungsbereich abgestellten Fahrzeugen bewegen. Indem ein Beeinträchtigung von Fußgängern gebilligt wird, vermittelt man Kindern nicht nur ein fragwürdiges Wertesystem, sondern beeinträchtigt auch die Verkehrserziehung.
Insofern es im Rahmen des Ermessens der Straßenverkehrs-behörde ist, auf bestimmten Straßenabschnitten die vorhandene Gehwegbreite dauerhaft einzuschränken, kann diese das Parken auf Gehwegen durch Zeichen 315 zulassen und so den ruhenden Verkehr ordnen. VwV-StVO zu § 42 Zeichen 315:
> Das Parken auf Gehwegen darf nur zugelassen werden,
> wenn genügend Platz für den unbehinderten Verkehr von
> Fußgängern gegebenenfalls mit Kinderwagen oder
> Rollstuhlfahrern auch im Begegnungsverkehr bleibt, […]
Zu einer solchen Maßnahme gehört dann aber auch, dass das Ordnungsamt das Falschparken andernorts mit Verwarnungen (und im Wiederholungsfall Bußgeldern) zu ahnden.